RESEARCH
 
Forschungsfrage:
Wie entwickelt sich das Singen bei Kindern?
 
 
Stefanie STADLER ELMER
(Universität Zürich, CH)
 
Entwicklungspsychologin,
speziell im Bereich des musikalischen Verhaltens

Mikroanalysen von
kindlichem Singen
inkl. Computer gestützte Analysen
UND audio-files (< click)

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ENGLISH VERSION

Microanalyses of

children's singing

 
Fast alle Kinder singen gerne und oft, gemeinsam in der Gruppe oder allein vor sich hin. Spielerisch und angeregt durch ihre Umgebung erlernen sie allmählich, den stimmlichen Ausdruck den Konventionen anzupassen.
Zu früheren Zeiten galten musikalische Fähigkeiten als angeboren. Entweder jemand hatte ein solches Talent, sozusagen als Geschenk Gottes oder der Natur, oder eben nicht.
Noch heute messen gängige Lehrbuchmeinungen den Erfolg der musikalischen Entwicklung von Heranwachsenden daran, wie gut ihnen die Adaptation an bestehende musikalische Regeln und Normen - unter Berücksichtigung ihres Lebensalters - gelingt. So erwartet man beispielsweise, dass das Kind ab einem bestimmten Alter Lieder
korrekt nachsingen kann. Abweichungen von den kulturellen Normen werden als Defizite betrachtet.
Meiner Erfahrung nach spiegelt die Entwicklung des musikalischen Könnens wider, wie Kinder in die sie umgebende Kultur hineinwachsen und sich ihr allmählich anpassen. Kriterien wie «richtig» oder «falsch» sind weniger wichtig, als vielmehr die Art und Weise, in welchen Kontexten Kinder von sich aus singen, wie sie ihre musikalischen Handlungen organisieren, und wie sich diese Organisation im Verlaufe der Zeit verändert. Man kann beobachten, dass kindliches spontanes Singen ursprünglich mit Wohlbefinden,
Freude und Spiel verbunden ist.

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COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSEN DES KINDLICHEN SINGENS
 
Um zu untersuchen, auf welche Weise die Regeln des Singens erlernt werden, beobachtete ich Kinder zwischen zwei und neun Jahren, wie sie beim Anschauen eines Bilderbuchs neue Lieder erlernten und wie sie Lieder selbst erfanden. Ihr Singen wurde aufgezeichnet und in Form digitaler Audiodateien im Computer gespeichert. Die Auswertung des
Tonmaterials brachte Erstaunliches zu Tage. So können bereits kleine Kinder von zwei Jahren zumindest Liedpassagen sehr gut nachsingen - selbst solche mit fremdsprachlichem Text. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Kind die kulturellen Regeln, wie man richtig singt, bereits verstanden hat. Ihr Singen ist noch sensomotorische Imitation.
Besonders bei den Erfindungen zeigt sich, dass die kulturellen Regeln
des Singens noch wenig beachtet werden. Das Kind organisiert sein Singen nach wechselhaften Regeln und nach seinem eigenen Gutdünken.
Noch versteht es nicht die Notwendigkeit, das Singen nach gemeinsamen, soziokulturellen Regeln zu gestalten. Das zeigt sich darin, dass Kinder in diesem Stadium immer wieder von den Regeln abweichen. Beispielsweise pausieren sie inmitten eines Wortes, um
Atem zu holen. Erst ältere Kinder haben dank einem grösseren Liedrepertoire die normativen Kriterien verinnerlicht. Erfinden sie Lieder, so befolgen sie dabei implizit die musikalischen Konventionen unserer Kultur wie Reimbildung, stabile Tonart oder Schlussbildung auf dem Grundton. Bei Kindern aller Altersstufen fällt auf, dass sie
sich in erster Linie an der Zeitstruktur eines Liedes orientieren.
Sie erkennen die Grundmuster von Wiederholung, wozu ihnen das Taktmass, der Rhythmus, Melodiemotive und Textpassagen als Orientierung dienen. Selten fügen Kinder einem Lied weitere Töne respektive Silben hinzu oder lassen sie weg. Fehlt ein Element, so
erfinden sie einen Ersatz, damit unterm Strich die Zeitstruktur des Liedes eingehalten wird.
Die Art, wie Kinder Lieder erfinden und sich selbst dabei Regeln setzen, indem sie neben der Melodie poetische Gestaltungsmittel wie den Versfuss berücksichtigen, zeugen
vom kreativen Aspekt des Singens und lassen uns Erwachsene immer wieder staunen.
Die musikalischen Entwicklung, die sich im Singen der Kinder manifestiert, lässt sich am besten als Prozess des stetigen Nachahmens und spielerischen Ausprobierens verstehen. Dieser Prozess wird wesentlich gefördert durch ein stimulierendes Angebot. Das Kind
verwendet bisher Gehörtes und Erlerntes, spielt damit, erkundet und erfindet Neues. Auf diese Weise eignet es sich Schritt für Schritt die musikalischen Konventionen über die Gestaltung von Text und Melodie und ihre parallele Organisation in Liedform an. Wächst das Kind in einer Umgebung auf, die den spielerischen Umgang mit Musik fördert, wirkt sich das positiv auf seine musikalische Entwicklung aus. Daher ermuntere ich gerne Eltern und Erzieher dazu, Kinder nicht einfach mit musikalischen Verhaltensregeln zu belehren, die ihr unbeschwertes musikalisches Spielen in geordnete Bahnen lenken sollen. Wichtiger ist es, die kindliche Phantasie, Neugier und Freude an der Musik zu erhalten. Trennen muss man sich auch von der Idee, dass die musikalische Entwicklung wie von selbst vom Alter abhängen soll. Das Lebensalter gibt zwar Hinweise auf mögliche Erfahrungen,
aber es lässt sich daraus nichts Zuverlässiges über den Entwicklungsstand folgern. Aus alledem ist zu folgern, dass Vorstellung, dass ein Mensch genetisch zum Wunderkind prädisponiert sei oder eben nicht, zu kurz greift. Vielmehr spielen bei Personen,
die durch musikalisch auffallende hohe Fähigkeiten auffallen (Mythos vom musikalischen Genie), verschiedenste Faktoren eine Rolle: Angefangen von einem stimulierenden sozialen Umfeld bis hin zum intensiven Üben, führt - von der Öffentlichkeit meist unbemerkt - nur
ein langer, oft mühsamer Weg nach ganz oben.

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NEUE FORSCHUNGSMETHODE: MIKROANALYSE, UNTERSTÜTZT DURCH AKUSTISCHE ANALYSEN
 
Um das Singen der Kinder wissenschaftlich untersuchen zu können, musste ich zunächst einen Weg finden, um die reichhaltigen vokalen Äusserungen überhaupt beschreiben zu können. Zum einen ist das Analysieren durch blosses Hören ist nicht zuverlässig. Und zum
anderen ist die konventionelle Musiknotation unseres Kulturkreises zu eingeschränkt, um Abweichungen gerecht zu werden. Mikrointervalle, instabile Tonhöhen und zeitliche Unregelmässigkeiten können nicht dargestellt werden. In Zusammenarbeit mit dem Physiker F.J. Elmer ist es gelungen, eine Methode mit Computer unterstützten Analyse des
Tonmaterials und eine spezielle Notenschrift zu entwickeln, um das Gehörte schriftlich darzustellen. Zusätzlich zu den konventionellen Tönen und Wortsilben ermöglicht diese Notation unter anderem darzustellen, ob ein Ton stabil gehalten wird oder «wackelt», ob das Kind ein auf- oder absteigendes Glissando singt oder gesprochene Silben dazwischen schiebt.
Click > WAV oder AIFF und Sie hören ULLA's Lied:
Ulla war 2 Jahre 7 Monate alt, als sie dieses Lied sang. Es ist ihre
erste Solo Reproduktion. Ereignis 25 bedeutet Folgendes: Zuvor
hatte ich Ulla das Lied 13 Mal vorgesungen, zehn Mal war
dasselbe Lied von einem anderen Kind in abweichender Form
gesungen worden und einmal sangen die beiden Kinder
zusammen. Beachtenswert ist die gute Uebereinstimmung mit
dem Lied-Modell.
<Click here to see the full picture of the presentation.
 
 
< click: Beschreibung der Symbolen
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Click > WAV oder AIFF und Sie hören Tom's Lied:
Tom erfand spontan ein neues Lied im Zusammenhang mit einem
Bild in einem Bilderbuch. Weil dies unerwartet und überraschend
geschah, hat es einige Störgeräusche in der Aufnahme.
Interessant ist, wie Tom auf Anhieb ein Lied mit Text und Melodie
erfand. Er kombinierte sprachliche und melodische Mittel zu einer
zusammenhängenden Einheit, welche zum Bildinhalt passt. Text
und Melodie enthalten beide unkonventionelle Stellen, z.B.
Neologismen und Mikrointervalle.
 
< Click and see the full picture.
 
 
 
 
Tonhöhenanalyseprogramm siehe: click>http://monet.physik.unibas.ch/~elmer/pa
 
 
© Stefanie Stadler Elmer

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Weitere Information in mein Buch und andere Publikationen:

STADLER ELMER, S. (2000). Spiel und Nachahmung. Über die Entwicklung der elementaren musikalischen Aktivitäten. (Wege Musikpädagogische Schriftenreihe, Band 12) 2000, 196 S. Aarau: HBS Nepomuk Verlag ( Postfach CH-5001 Aarau).

STADLER ELMER, S. (1997). Approaching the song acquisition process. Bulletin of the Council for Research in Music Education, 133, 129-135.

STADLER ELMER, S. (1998). A Piagetian perspective on singing development. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd. 13, 108 - 125. Göttingen: Hogrefe.

STADLER ELMER, S.(2000). Stages in singing development. In J.Tafuri (ed.). Quaderni della SIEM. Semestrale di ricerca e didattica musicale, Anno 10, N. 16 (2), 336-343.

STADLER ELMER, S.(2000). Liedersingen mit Kindern: Strukturgenese im sprach-musikalischen Ausdruck. In S. Hoppe-Graff & A. Rümmele (Hrsg.). Entwicklung als Strukturgenese. Lengerich: Pabst-Verlag. (im Druck).

STADLER ELMER, S.& ELMER, F.-J. (2000). A new method for analyzing and representing singing. Psychology of Music, 28 (1), 23-42.

STADLER ELMER, S.& HAMMER, S. (2001). Sprach-melodische Erfindungen einer 9-jährigen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, im Druck.

Korrespondenzadresse:
Dr.Stefanie Stadler Elmer
Dechsweg 8b
CH-4410 Liestal
Tel/Fax: ++ 41/ 61 923 10 55
e-mail: stadler(<click)
URL: http://monet.physik.unibas.ch/~elmer/sse (< click)
 

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